Indien – Wettbewerb spornt an
Indien – Wettbewerb spornt an
„Dream big and do bigger!“ Das ist nicht nur ein guter Vorsatz, sondern die Grundhaltung, mit der viele Talente in Indien ihr Studium absolvieren oder eine Ausbildung machen und dann ambitioniert in die Arbeitswelt starten. Sie sind fleißig, arbeiten hart, sind fokussiert, ambitioniert und geben ihr Bestes. Kurz: Sie sind auf Wettbewerb getrimmt.
Schwierige Prüfungen und knallharte Auswahl
Indiens Elite-Hochschulen haben ein striktes Ausleseverfahren. Nur die Besten der Besten haben überhaupt eine Chance auf einen Studienplatz. Wer es dorthin schafft, bekommt eine der besten Ausbildungen überhaupt und ist nach bestandenem Examen am Arbeitsmarkt gesucht.
So werben die besten Hochschulen des Landes damit, dass ihre Top-Absolventen eine Stelle mit umgerechnet einem sechsstelligen Euro-Jahresgehalt bei einem Weltkonzern bekommen haben. Natürlich vor allem deshalb, weil die Ausbildung exzellent und das Lernverhalten super ist.
Exzellenz im Superlativ: Die absolute Elite
Das IIM Ahmedabad, die Elite-Uni für Wirtschaft, nimmt 1 von 400 Bewerbern, während die amerikanischen Pendants Stanford und Harvard eine Zulassungsrate von 6% bzw. 11% haben. Kein Wunder, dass es in Indien mit einem gewissen Stolz in Managerkreisen heißt: „If you can’t make it to Ahmedabad try Harvard!“
Bei den Ausbildungsstätten für Ingenieure sieht es so aus, dass maximal 1 von 100 die Zulassungsprüfungen für eines der renommierten IITs erfüllt. IIT Kharagpur, IIT Bombay, IIT Madras, IIT Kanpur, IIT Delhi und ein gutes Dutzend weitere bilden hier die Ivy League. Die Listen mit den Hochschulrankings, welche Institution denn wirklich den besten Ruf hat, sind im Internet zu finden.
Und es geht weiter: Auf eine ausgeschriebene Stelle bei der Statebank of India kamen in den letzten Jahren im Schnitt mehr als 550 Bewerbungen. Der Wettbewerb ist knallhart.
Das Ziel: Bestleistungen im knallharten Wettbewerb
In Indien weiß man, dass der Wettbewerb zu Bestleistungen anspornt. Weltrekordzeiten schaffen Läufer schließlich nur dann, wenn es wirklich um Medaillen geht und nicht wenn sie alleine auf der Bahn trainieren. Konkurrenz belebt das Geschäft. Das wissen die Kaufleute. Man muss raus aus der Komfortzone, um zu wachsen und zu gedeihen.
Raus aus der Komfortzone
Zwei kleine Geschichten aus der Tierwelt dazu: Wenn ein Krokodil in einem kleinen Becken lebt, wächst es nicht zu seiner vollen Größe heran. Es verkümmert sozusagen zu einem „Bonsai-Krokodil“. Schnecken, für manche Gourmets ein Hochgenuss, entwickeln dann ein besonders saftiges Fleisch, wenn man sie in ein Becken mit einem Hummer gibt. Da der Hummer ihr natürlicher Feind ist, entwickeln Schnecken besondere Widerstandskräfte, um zu überleben. Das macht ihr Fleisch besonders zart und saftig.
Dasselbe Prinzip machen sich japanische Fischer zu Nutzen. Sie haben herausgefunden, dass ihr Tagesfang lange frisch bleibt, wenn die ins Netz gegangenen Fische in einen Tank zu einem Hai kommen. Klar, der Hai schnappt sich einige der Fische. Die anderen aber sind voller Energie und bringen den Fischern einen besseren Verkaufspreis ein.
Wem diese Beispiele etwas zu heftig sind – mir eingeschlossen – dem mag eine andere Geschichte helfen, den springenden Punkt zu erfassen.
Wachsen dank Widerstand
Ein Beduine, der sich über etwas sehr geärgert hatte, reagierte seinen Frust an einer jungen Palme ab. Er legte ihr einen Stein in die Krone und machte ihr das Leben damit beschwerlich. Als er nach Jahren wieder an dieser Stelle vorbei kam, sah er eine prächtige Palme. Größer und schöner als die anderen. Er wunderte sich, was diese Palme so stattlich machte. Da hörte er, wie sie zu ihm sprach: „Danke, Deine Last hat mich stark gemacht!“
Hinter solchen Geschichten und Erfahrungen verbirgt sich nicht selten das pädagogische Plädoyer für Fleiß, Anstrengung und harte Arbeit. Sich Herausforderungen zu stellen, bewirkt, dass ungeahnte Kräfte entdeckt werden und man über sich hinaus wächst. Wettbewerb ist der Motor des Erfolgs. Genau so tickt Indien.
So sind Ihre Kolleginnen und Kollegen sozialisiert
Mit diesem Denken sind Ihre Kolleginnen und Kollegen aufgewachsen. Ohne Fleiß kein Preis! Anstrengung, harte Arbeit, Wettbewerb – das ist ihnen vertraut. Viele sind ehrgeizig und wollen mit ihrer guten Arbeit der Familie etwas zurückzugeben, weil sich die oft sehr mühevoll die Kosten für die Ausbildung abgespart hat.
Haken Sie hier ein: Fragen Sie doch Ihre Kolleginnen und Kollegen, wie Ihre Ausbildung war. Wie sie den Wettbewerb erlebt haben und was das mit ihnen gemacht hat. Lassen Sie sich das bitte genau erzählen und hören Sie mit großen Ohren interessiert hin. Damit haben Sie nämlich nicht nur ein gutes Thema für Ihre beziehungsorientierte Kommunikation, sondern erfahren auch gleich noch eine Menge über die Ausbildung Ihrer Kollegen und Kolleginnen. Das hilft Ihnen, sie besser zu verstehen und auch einzuschätzen, was sie können.
Ein „ganz normaler“ Ingenieur?
In meinen interkulturellen Trainings mache ich sehr oft die Erfahrung, dass wir von uns auf andere schließen. Das heißt: Die Ingenieure, die mit Kollegen in Indien zum Beispiel an einer neuen Software tüfteln, denken ganz automatisch, dass diese genauso ausgebildet sind wie sie selbst. Diese Folgerung ist ganz natürlich. Aber Missverständnisse sind da vorprogrammiert.
Wer in Indien nämlich nicht gerade an einem der renommierten IITs war, ist weniger auf eigenständiges Denken trainiert wie wir. Auswendiglernen war gefordert, Wiedergabe der Lehrmeinung der Professoren. Darauf sind sie trainiert, weniger auf Transfer. Kritische Fragen einem Lehrer gegenüber eher Fehlanzeige. Mut, was Eigenes zu entwickeln, kaum. Denn dafür bräuchte es die Erlaubnis und Anweisung von oben. Theorie super, Praxis weniger. Die Liste der Unterschiede lässt sich fortsetzen.
Das Umfeld prägt
All das hat mit dem Bildungssystem ebenso zu tun wie mit dem Rollen-Verständnis von einem Lehrer und Schüler oder auch dem Prinzip der Seniorität – dass ältere und deshalb erfahrene Kollegen zu respektieren sind und ihrer Meinung tunlichst nicht zu widersprechen ist. Jüngere Kolleginnen und Kollegenen werden also kaum den Schalter im Hirn auf eigenständiges Denken und das Erbringen von innovativen Problemlösungen umlegen, wenn sie immer gewohnt waren, sich nach den Vorgaben des Lehrers oder des Chefs zu richten.
Sie bringen Ihre Zusammenarbeit gut voran, wenn Sie um diesen Kontext wissen und ihn immer wieder im Gespräch aufgreifen. So können Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen besser verstehen, einschätzen und auch unterstützen.
Tipps für Ihre Zusammenarbeit
Die Erfahrung zeigt: Wenn Sand im Getriebe ist und die Zusammenarbeit belastet, hat das weniger mit unwilligen und faulen Kolleginnen und Kollegen auf der indischen Seite des Teams zu tun, sondern mit der falschen Annahme, dass die Kolleginnen und Kollegen auf der indischen Seite des Teams doch genauso ausgebildet sind wie Sie und ihre Rollen ebenso verstehen wie Sie.
Stopp: Rechnen Sie mit eklatanten Unterschieden in der Ausbildung, der Art und Weise des Lernens, dem Vorrang der Theorie vor der Praxis, dem Prinzip der Seniorität und der spezifischen Lehrer-Schüler-Beziehung, um nur ein paar Faktoren zu nennen. Kultur macht den Unterschied. Denn sie prägt die Menschen verschieden.