Lese-Tipp: Narcopolis von Jeet Thayil
Lese-Tipp: Narcopolis von Jeet Thayil
Hochgelobt durch die internationale Literaturkritik: Jeet Thayils Debütroman mit dem Titel Narcopolis. „Sensationell“, „absolut lesenswert“, „man wünscht, dass dieses Buch nie aufhören würde“, so schreiben die Fachleute. Narcopolis schaffte es neben weiteren Auszeichnungen auf die Shortlist des Man Booker Prize (2012) und wurde beim Literaturfestival in Jaipur mit dem DSC Prize for South Asian Literature ausgezeichnet.
Blick in den Abgrund
Bombays verruchte Opiumhöhlen der 1970er und -80er Jahre sind das Thema. Eine Mischung aus Drogen und Sex, Abhängigkeit und Missbrauch, Rausch und Zerstörung, Siechtum und Ekstase, Verfall und Chance und über die nie enden wollende Hoffnung auf ein besseres Leben liefert den Stoff der Geschichten, die hier erzählt werden. Gemischt mit autobiografischen Elementen – die frühere Drogensucht des Autors und seine Entzugserfahrungen, im Nachhinein bezeichnet er diese Zeit als die „20 verlorenen Jahre meines Lebens“ – spannt sich ein buntes Gewirr aus Geschichten vom Leben am Rande. Im Untergrund. In der Gosse. Dorthin, wo man sich nur verirren kann. Im seltensten Falle freiwillig.
Verrucht, gemieden, gekauft
Abschaum, wirre Träume und wilde Phantasien, die bisweilen zur Realität werden – sind das Masala der Geschichten. So zum Beispiel über Rashid, den Dealer und Besitzer einer Opiumhohle, über Dimple, die Hijra, die – wie keine andere die Pfeifen zubereitet und nie richtet über das, was ihr die Menschen im Dunst der Drogen anvertrauen. „Drugs and Sex“ zieht sich als roter Faden durch.
Rock n roll tanzen die Biografien, an denen der Leser reichlich partizipieren darf. So etwa die Geschichte über den grausamen Patthar Maar, der sich nachts in den Slums von Bombay herumtreibt und die Armen umbringt. „Sie wollten es so, sie flehten mich an, es zu tun“, murmelt er, nachdem er zuschlug. Er spielt sich im Gegensatz zu Dimple, die nie richtet, – hier wird nicht verraten, wer dieser Mörder ist – zum Richter über Leben und Tod auf, selektiert die Armen und rechtfertigt dies mit gutem Gewissen als zweifachen Liebesdienst: Mercykilling an den Armen, weil ihr Leben sowie so keine Zukunft hat und Erleichterung für die Gesellschaft, weil sie einen weniger in der Gosse mitziehen muss.
Die Hölle
Narcopolis Bombay, die mit ihren Opium-, Koks- und Haschischausdünstungen nicht wenigen zur Nekropolis – zur Stadt der Toten – wurde, lässt teilhaben am Schicksal derer, die uns normalerweise fremd bleiben. Die ganz unten, die dem Leben davonlaufen: gescheitert, ausgesetzt, auf sich und ihre Träume gestellt.
Vom Wandel, der so überraschend Einzug hält und ganz neue Perspektiven aufzeigt. Chancen, nach denen man greifen kann, wenn man noch die Kraft dazu hat. Transformation, Reinkarnation. Neues Leben. „Es ist eigentlich ganz einfach“.
Thayils Debütroman bereitet ein großes Lesevergnügen, bei dem die Zeit im Flug vergeht. Wir sind eingeladen zum Nachdenken über Hintergründiges, das zweifellos Vordergründiges ist: das Leben selbst. Bizarr, skurril, erduldet, gestaltet, gelebt und gewandelt. Vielfältig, fesselnd, spannend.
Bewusstseinserweiterung
Narcopolis lässt unser Bewusstsein – ganz ohne Drogen – weiter werden. Wir kommen dem Leben in Bombay auf die Spur, noch ehe die Stadt mit ihrem neuen Namen Mumbai in ein neues Leben durchgestartet ist: Symbol des neuen Indien, Wirtschaftsmetropole am Arabischen Meer mit Mieten, die teurer sind als in Manhattan.
Ein faszinierendes Buch, erschienen 2013 bei Fischer, 379 Seiten, vorzüglich übersetzt von Bernhard Robben. Der Preis: 22,99 €.