Klischees und Stereotype
Klischees und Stereotype
Freitagnachmittag. Es ist ziemlich viel los in der Stadt. Ich bin zum ZOB in München geeilt, um meinen indischen Bekannten abzuholen. Er kommt aus Zürich. Der Bus verspätet sich. Bald schon erlischt die Anzeige. Keine Infos mehr.
Was jetzt kommt ist ein Fallbeispiel für Klischees und Stereotype. Wie aus dem Lehrbuch für interkulturelles Training Indien. doch es steht nicht drinnen, es ist mir in Echt passiert.
Die Schere im Kopf
Ungeduldig wie ich bin, werde ich nervös. Gehe auf und ab und suche nach einer neuen Anzeigentafel. Wir sind bei 20 Min Verspätung. Neben mir läuft eine Frau aufgeregt herum. Auch sie in hab-acht-Stellung. Ich frage sie, ob sie auch auf den Bus aus Zürich wartet. „Nein“ sagt sie, „auf den aus Dresden“. Ihre Tochter komme. Sie habe schon angerufen und die halbe Stunde Verspätung durchgegeben.
Viel Verkehr. Überall Stau. Ok. Ich bin beruhigt. Das wird der Grund sein. Mein Bekannter hat kein Handy. Aber die Hoffnung, dass er in den richtigen Bus eingestiegen ist, bleibt. Wird schon kommen. Das letzte Mal klappte es mit dem Zug nicht so ganz. Er fuhr eineinhalb Stunden in die falsche Richtung. Aber heute gilt: Neue Chance, neues Glück.
Mein Gesicht scheint meine Unruhe auszustrahlen. Denn die Frau sagt zu mir: „Der kommt schon noch. Und überhaupt, ein Inder ist doch leicht zu erkennen. Mit dem Turban.“
Die Macht der Bilder
Was ist passiert? Im Kopf der Frau hat sich ein bestimmtes Bild festgesetzt: Inder haben einen Turban. Ganz einfach. Und doch nichts weiter als ein Klischee. Wahrscheinlich hat sie im Fernsehen Bilder aus Rajasthan gesehen oder in einem Bildband über Indien geblättert. Vielleicht war sie aber auch indisch essen und wurde von einem Kellner, der aus dem Punjab kommt und Sikh ist, mit Turban bedient.
Was auch immer: Bilder haben sich ihr eingebrannt und ihr Bild von Indien geformt. Dieser Eindruck verfestigt sich und schafft eine Wirklichkeit im Kopf, die es in der Realität so gar nicht gibt. Nicht jeder Inder trägt Turban. Nicht jeder bayerische Mann trägt Lederhose.
Diese Bilder heißen Klischees. Sie helfen uns, die Welt zu ordnen und Klarheit zu schaffen. Aber sie lassen uns in der Meinung, als hätten wir alles verstanden und würden alles schon über die anderen wissen. Insofern sind Klischees ein Handicap, das uns das Leben schwer macht.
Einbildung als Hindernis
Klischees reduzieren die tatsächliche Komplexität. Zerrbilder und falsche Eindrücke entstehen.
Das Hinderliche daran ist, dass sie uns den Blick auf die Wirklichkeit verstellen und uns blockieren, den Andere so zu verstehen, wie er sich selbst versteht. Gerade das aber ist die Königsdisziplin in der interkulturellen Begegnung.
Und für alle die neugierig sind, ob mein Inder kam: Ja und zwar ganz ohne Turban!
Herzliche Grüße und beste Wünsche für Sie! Dr. Simone Rappel