Arundhati Roy: Indien ohne „rosa Brille“
Arundhati Roy: Indien ohne „rosa Brille“
„She lived in the graveyard like a tree.“ So beginnt das erste Kapitel von Arundhati Roys neuem Roman „The ministry of utmost happiness“. Friedhof und Baum. Das eine ein Platz der Toten und das andere ein Symbol des Lebens. Was nicht zusammenzupassen scheint, gehört zusammen. Der Friedhof wird zum Ort neuen Lebens. „Zum Paradies (Jannat Guest House), das jeder von uns braucht“, sagt Arundhati Roy.
Ins Wort bringen
Damit sind wir mitten in einer Realität, die es in Indien auch gibt. Menschen wohnen auf Friedhöfen, neues Leben entsteht auf den Gräbern. Das Leben der Marginalisierten verschafft sich eine Bühne und bekommt Raum.
Arundhati Roys Roman erzählt von denen, die an den Rand der indischen Gesellschaft gedrängt sind, ein Schattendasein leben: den Toten und Gequälten im Kaschmirkrieg, die grausamen Auseinandersetzungen von Hindus und Muslimen in Gujarat, den ausgebeuteten und betrogenen Armen, das Leben als Guerillakämpfer im Dschungel oder als Transgender.
Dem Anderen ins Gesicht schauen
Indien ist nicht nur Gandhi, Bollywood und leckeres Essen. Ist mehr als die kaufkräftige Mittelschicht, der IT- und Wirtschaftsboom. Zugleich ist Indien immer auch anders: die gesellschaftlich zementierte Ungerechtigkeit und Ausbeutung durch das Kastensystem, Gewalt an Minderheiten, Diskriminierung der Nicht-Erwünschten mit ihren vielen Gesichtern.
Arundhati Roy nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie lädt ein, genauer hinzuschauen. Die „rosa Brille“ abzunehmen, um auf die Schattenexistenzen zu blicken, denen sie eine machtvolle Stimme verleiht.
„Das Ministerium des äußersten Glücks“
Mutig kritisiert sie den Hindu-Nationalismus, der sich in der größten Demokratie der Welt inzwischen ungestüm Bahn bricht und religiösen Minderheiten, vor allem den Muslims, nicht zuletzt mit Lynchmorden zu Leibe rückt.
Sie beobachtet aufmerksam, sorgfältig, erkundet genau. Lässt nicht ab, bleibt dran. Setzt sich aus. Wachsam und neugierig.
Daraus schafft sie große Literatur. Über die Haupt-Charaktere in „Das Ministerium des äußersten Glücks“ sagt sie bei der Buchvorstellung im Literaturhaus München (13. September 2017). „Es sind starke Frauen. Aber sie sind nicht mächtig.“
Kritische Zeitgenossenschaft
Arundhati Roy hingegen ist stark und beeindruckend wirkmächtig. Sie lebt eine kritische Zeitgenossenschaft. Lässt sich nicht abwimmeln und klein kriegen. Stört mit Worten, ist unbequem. Sie verhindert, dass Unliebsames unter den Teppich gekehrt wird. Schreibt wider das Vergessen, lebt gegen eine Globalisierung des Wegschauens und der Gleichgültigkeit. Sie zerrt unbequeme Wahrheiten ans Licht und bringt sie entschlossen zur Sprache.
Auf die Frage, ob es ihr nicht langsam zu viel wird mit dem Erinnern und Mahnen, dem Aufstehen gegen das, was Menschenrechte unterdrückt, sagt sie:
„Wer soll es tun, wenn nicht wir?“ Intellektuelle Köpfe, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen, haben eine Verpflichtung zur Wachsamkeit.
Widerstandskraft
Sie will kein bequemes Leben im Ausland. Sie lebt ganz bewusst in Indien und schaut dahin, wo Blut fließt und Gewalt herrscht. Arundhati Roy ist der Stachel im Fleisch und legt den Finger in die Wunden. Dabei wird sie nicht müde zu betonen, dass sie eine Stimme von vielen ist. Die indische Zivilgesellschaft ist da und steht auf.
„I rather lose than be on the other side!“ (Arundhati Roy)
Ob sie keine Angst habe um ihr Leben? „Ja, wie andere auch!“ Dann sagt sie den Satz, der mich zutiefst anrührt: „Ich verliere lieber als auf der anderen Seite zu stehen!“ Für manches lohnt es sich, zu kämpfen und unbeugsam zu sein. Auch, wenn das unbequem ist und einem viel abverlangt. Widerständigkeit hat ihren Preis. Gewiss.
Arundhati Roy gibt nicht auf. Sie weiß, wofür sie steht und widmet ihren neuen Roman den vielen Ungetrösteten. Sie macht sich stark mit der Macht ihrer Worte. Worte schaffen Wirklichkeit: Der Ort der Toten wird zum Ort neuen Lebens.
Über die „kleinen Dinge“ und scheinbar Belangloses
Als ich ihren neuen Roman in meinem Sommerurlaub gelesen habe, war ich fasziniert von der sprachlichen Wucht, die scheinbar Belangloses – Menschen Dinge, Momente – mit großer Aufmerksamkeit würdigt. Ich freute mich, wieder eine neue Facette Indiens kennenzulernen, eine neue Draufsicht auf Geschichte in feinsinnig erzählten Geschichten.
Für mich als interkulturelle Trainerin für Indien ist es wichtig, möglichst viele Aspekte zu vermitteln. Das eine und das andere anzuschauen, einzusortieren, mit meinen eigenen Erfahrungen zu verknüpfen. Deshalb sage ich: Danke an Arundhati Roy für die Ermutigung, die „rosa Brille“ abzunehmen, die wir manchmal doch blauäugig aufsetzen.
Live: Die Begegnung mit Arundhati Roy
Bereichert durch die Lektüre war ich sehr gespannt auf die Begegnung mit der Autorin. Im Literaturhaus in München war es möglich. Ein inspirierender Abend mit einer großartig widerständigen Stimme der indischen Zivilgesellschaft.
„Geflasht“ hat mich, wie intensiv sich Arundhati Roy Zeit nimmt, um ihre Bücher zu signieren. Jede und jeden schaut sie strahlend an und schafft im Bruchteil einer Sekunde eine Intensität der Begegnung. Hoch intensiv, kraftvoll ermutigend!
Auf mich wirkt es so, als sei sie neugierig auf jeden einzelnen, der sich für die Menschen in ihren Büchern interessiert. Denn, wie sie sagt „fiction is truth“.
Das Ministerium des äußersten Glücks – Ein absoluter Lesetipp!
Beste Grüße und viel vergnügen bei der Lektüre Ihre Dr. Simone Rappel