Nischenprodukt aus Indien: Zaubertinte
Nischenprodukt aus Indien: Zaubertinte
Wenn wir an Tinte denken, dann fallen uns wahrscheinlich unsere ersten Schreibübungen mit dem Füller ein. Wie stolz waren wir, wenn die Buchstaben und Wörter richtig geschrieben waren. Wenn nicht, dann gab es ja noch etwas, das uns rettete: der Tintenkiller. Schon waren unsere Fehler verschwunden. Magic Ink ist ein Nischenprodukt aus Indien.
Was aber hat Tinte mit Demokratie zu tun, werde ich im Training verblüfft gefragt? Für uns ist kein Zusammenhang ersichtlich. Aber die Geschichte ist ganz einfach:
In vielen Ländern der Erde markiert man die Finger derer, die gewählt haben mit Tinte. Und zwar mit einer ganz besonderen: einer, die abriebfest ist.
Wasser und Seife helfen nicht, um sie los zu werden. Auch keine anderen Mittel. Dokumentenecht, unauslöschlich, nicht löslich…
Punkt, Punkt, Komma, Strich bei Wahlen
In Indien zum Beispiel wird mit einem Stäbchen eine Längslinie über Fingernagel und Haut gezogen, in Kambodja und auf den Malediven muss der Wähler den Feigefinger ins Tintenfass tauchen. Burkina Faso und Burundi verwenden kleine Bürsten, um die Tinte aufzutragen, Afghanistan einen Stift.
Egal, in welchem Land auch immer bei Wahlen Tinte zum Einsatz kommt, um Betrug zu verhindern: Sie stammt aus Indien. Genauer gesagt aus Mysore. Auch hier gilt: Sie ist ein Nischenprodukt. Eine einzige Firma hat die Berechtigung, sie herzustellen: Mysore Paints & Varnish.
Ein Nischenprodukt als Bestseller
Eigentlich stellt Mysore Paints & Varnish Anstriche und Lacke her. Ganz gewöhnliche Produkte für den Hausgebrauch. So wollte es der Gründer der Firma, der ehemalige Herrscher der südindischen Stadt, der die Farben nicht zuletzt für seine vielen Bauten brauchte. 1962, nach fast 40 jährigem Bestehen, bekam die Firma die Anfrage der Wahlkommission, eine Tinte zu erfinden, die für längere Zeit auf der Haut sichtbar bleibt und nicht abwaschbar ist. Gesagt, getan. Die Zaubertinte wurde erfunden.
Klar, dass die Herstellung strengster Geheimhaltung unterliegt. Nur so viel verrät der Geschäftsführer des Unternehmens, das sich heute im Besitz des Bundesstaates Karnataka befindet: „Silber ist ein wichtiger Bestandteil unserer Tinte. Deshalb ist der Preis vom Silberpreis abhängig. Der Feinsprit kommt ebenso wie alle anderen Rohmaterialien aus Indien“, mehr könne der Chef von ca. 65 festen Mitarbeitern nicht verraten.
A mark of pride
Leuchtend violett ist die Tinte in der Flasche. Auf Fingernagel und Haut aufgetragen, verfärbt sie sich dunkel-violett bis schwarz. Drei bis vier Wochen ist sie sichtbar. Falls jemand versucht, sie abzurubbeln oder abzuwaschen, erscheint sie sofort wieder, da sie auf Licht reagiert. Der Zeitpunkt, wann die Markierung verschwindet, hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel von der Körpertemperatur und den Lebensgepflogenheiten der Person, deren Finger markiert wurde.
Wochenlang gezeichnet, das macht nichts. Die meisten tragen ihre Markierung mit Stolz, ist sie doch für sie das Symbol ihrer Bürgerrechte. Ein Zeichen der Demokratie.
„Over the counter“ kann diese Tinte nicht erstanden werden. Wo aber dann? Geordert wird über die Botschaften und die Vereinten Nationen. Ein Fläschchen in der Standardgröße von 10 ml kostet ca. 183 Rupien (=rund 2,50 Euro) und reicht für 700 Wähler.
Großabnehmer ist der indische Staat. Überall, wo gewählt wird, ist Mysore Paint & Varnish mit im Spiel. Bei den Parlamentswahlen 2004 wurden 1,7 Millionen Flaschen à 5 ml verbraucht, 2009 schon mehr als 2 Millionen. Der Grund dafür ist nicht nur, dass es mehr Wahlberechtigte gab, sondern dass die Wahlkommission beschloss, den Punkt durch eine Linie als Form der Markierung zu ersetzen. Ein gutes Geschäft, braucht man doch für die Linie mehr Farbe.
Parlamentswahl Indien 2014 bedeutet „big business“
Für die Parlamentswahlen in 2014 sind 2,2, Millionen Fläschchen à 10 ml bestellt. 60 Tage sind für die Produktion veranschlagt. Der Wert dieses Auftrags 31 Crore (= fast eine halbe Million Euro).
Vom 7. April bis zum 12. Mai sind 814 Millionen Stimmberechtigte zur Wahl aufgerufen. Ein Mammutprojekt. Die größte Wahl der Geschichte überhaupt. 930.000 Wahllokale gibt es. In allen werden die orange-ockerfarbigen Fläschchen mit der Zaubertinte bereit sein.
Vertrauen zählt: Verkaufen ganz ohne Reklame
„Für unsere Tinte machen wir keinerlei Werbung. Man kennt uns. International vertraut man der Qualität unseres Produkts. Betrügen kann man mit dieser Tinte nicht“, so der Geschäftsführer Hemanth Kumar. „Bislang habe es eine einzige Beschwerde gegeben. Aus Afghanistan. Allerdings haben sie dort zum Auftragen der Tinte einen Stift verwendet, der nicht für unsere Tinte passte. Die Anschuldigungen wurden genau geprüft. Der Beweis kam schnell: Unsere Tinte ist sicher. Alle Vorwürfe mussten sofort zurückgenommen werden.“
Qualität steht an oberster Stelle, Diskretion und schnelle zuverlässige Lieferung ebenso. Magic Ink, das Nischenprodukt aus Indien, das inzwischen mehr als 60% der Einnahmen bei Mysore Paint & Varnish ausmacht, findet Abnehmer in aller Welt. Demokratien vertrauen auf diese Qualität made in India.
Schon wieder haben Sie ein schönes Thema für den super wichtigen Small talk in Indien. Ihre Dr. Simone Rappel